Pierluigi Billone
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1 + 1 = 1 (2006)

für 2 Bassklarinetten
Auftragswerk der Bank Austria und der Jeunesse

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aus dem italienischen von Barbara Maurer


Ein Tropfen plus ein Tropfen ergibt einen größeren Tropfen, nicht zwei!

So erklärt der “Spinner” Domenico in Andrej Tarkowskis Film “Nostalghia” die Aufschrift 1+1=1 an seiner Hauswand, während er zwei Tropfen Öl in seine Hand gießt.

Jedes Musikinstrument erreicht seine Vollkommenheit dadurch, dass zu seinen Eigenschaften ein ganzes Erbe an körperlichen Wahrnehmungen und Fähigkeiten hinzukommt, welches im Umgang mit der Materie, mit der Klangvorstellung und mit der Spiel- und Hörkultur, die es hervorgebracht hat, entstand.

Der erste Körperkontakt mit dem Instrument ist deshalb schon vorgeprägt, bleibt aber offen.

Obwohl die Haupteigenschaften des Instruments unverändert bleiben, ist die Spielpraxis doch wie ein sensibler Organismus.

Das Instrument existiert allmählich auch in anderer Weise, wird unter neuen Gesichtspunkten betrachtet, und es bildet sich ein Erfahrungsstrom, der seine Möglichkeiten verwandelt, der tatsächlich andere Dimensionen (Klang, Rhythmus, Körper usw.) erschafft.

Die Abwandlungen, die durch jede individuelle Entdeckung Eingang in die Spieltechnik finden, sind (verschieden deutliche) Spuren der menschlichen und kulturellen Erfahrungen, aus denen sie entstanden, und sie “vibrieren” im Hören als Besonderheit, Identität, Herkunft, sie sind aktive Klangschichten, lebendige Materie mit eigener Intelligenz.

Schon lange neige ich im Rahmen meiner Arbeit zu solchem Hören auf die Besonderheit und die Unterschiede, ich suche nach möglichen Berührungspunkten und Verbindungen zwischen Dimensionen, die jedoch ihre Autonomie behalten.

Mithilfe dieser Wachsamkeit (und einer fast archäologischen Feinfühligkeit) betrete ich Instrumentalräume, die mir noch unbekannt sind. Hier kann jede Einzelheit einen erhellenden Unterschied bedeuten, eine beachtenswerte Verbindung, den Grundstein zu einem Gebäude, die Identifikation einer von anderen schon gemachten Erfahrung, ein komplementärer Teil, eine bedenkenswerte Überraschung, einen unwiederholbaren Zustand, der die Grenzen der Notation überschreitet; in diesem Sinne gibt es dort keine unbedeutenden Aspekte.

Es ist die Grundlage jeder Arbeit, das Instrument mit seiner mehrdimensionalen Klangwelt als einen definierten Raum zu denken und darzustellen, in dem man sich rational bewegen kann. Wenn man dennoch nicht in dieser Darstellung gefangen bleibt, kann man die Grenzen des eigenen Entwurfs hören und für die Klangentstehung in ihrer Ganzheit offen bleiben. Dies beinhaltet jedoch, dass weitere Fähigkeiten ins Spiel kommen (auch die Archäologen müssen das Graben erst lernen...).

Durch das konkrete Tun der Interpreten prägt sich die Klangpraktik und –Intelligenz dem Körper und dem Raum ein, in der rituellen und impersonellen Dimension des gemeinschaftlichen Hörens.

Klang, Körper, Hören, Raum und Gemeinschaft sind nicht voneinander zu trennen.

§

Die beiden identischen Instrumente, die Aussicht auf eine (fast) unbegrenzte Dauer (70') und die Möglichkeit, an einem ausgewählten Ort zu arbeiten, sind ideale Voraussetzungen. Mein ganzer Dank geht an die Auftraggeber (Bank Austria und Jeunesse Österreich) und meine Bewunderung an die beiden Interpreten Petra Stump und Heinz-Peter Linshalm.

In dieser Arbeit befinden sich die beiden Instrumente im größten Abstand (15m), der noch eine wechselseitige akustische Einflussnahme der Klangquellen erlaubt. So kann ich einerseits jede Quelle akustisch und räumlich vollkommen isoliert behandeln, andererseits kann ich den gesamten Raum als Ganzes, wie das Innere eines Instrumentes, nehmen. Ausgehend von der dünnsten Schwingung (die in einer einzigen Quelle und an einem fast resonanzfreien Punkt im Raum isoliert bleibt) bis hin zur komplexesten und gestreutesten Schwingung (die den Raum ganz erfüllt), werden die Dishomogeneität und die unterschiedlichen Streuungspotentiale des Klarinettenansatzes zum Kraftpunkt für artikuliertere Beziehungen. Zum Beispiel für besondere Formen und Grade von Resonanz, von scheinbar beziehungslosen Zusammenklängen usw.

Die besondere Anordnung der Klangquellen und der Zuhörer regt zu einem dauerhaft unausgewogenen, unsymmetrischen Hören an. Der Raum, in dem der Klang sich ausbreitet und andauert, übernimmt somit eine eigene und stabile akustische Funktion: ein beabsichtigtes Ungleichgewicht, der ideale Kraftpunkt, um eine komplexe visionäre Multiphonie zu entwickeln, die vom Raum ausgeht.

Hier gibt es kein ideales Zentrum (der zuhörende Komponist, der sich andere Zuhörer vorstellt), „im Angesicht dessen” der Klang geschieht (und der dann meint, mit der CD den Klang in greifbarer Nähe zu haben, nicht mehr beeinflussbar, endlich perfekt und wiederholbar zu hören).

Wer zuhört, befindet sich im Inneren dieser akustischen Besonderheit, und um einen eigenständigen Hörpunkt zu bilden, muss er das Beherrschen und Modellieren der Hörebenen aktiver und nachdrücklicher üben, als dies beim traditionellen Hören der Fall ist.

Doch auch die Klangquelle ist instabil: manchmal schweigt das Instrument, und der Klang vibriert im Körper des Interpreten (instrumentaler Körper), manchmal „verschwindet” das Instrument ganz und vibriert wie ein Mund oder ein Lüftungsrohr.

Die Arbeit äußert und entwickelt sich in Stationen, jede von ihnen steht in einer anderen Dimension. Sie folgt einer besonderen Hierarchie und Gradationen von Verbindungen, die oft sehr entfernt voneinander liegen. Station um Station entsteht eine dishomogene Galaxie aus Erscheinungen, und gleichzeitig öffnet sich ein weiterer Raum, der Raum des rituellen Wort-Klanges.

Die Möglichkeit und der Sinn, alle diese Ebenen zu integrieren, das ist die offene Frage für das Hören.

1+1=1 spielt auf einen Unterschied an: auf das Erkennen der Praktik und der Intelligenz des Klanges als bewusste Zugehörigkeit zu einer impersonellen Dimension, deren Grenzen nicht gezogen sind (wie in einem Tropfen Öl...).

 

Legenda

Fingering representation

 

fingering representation

 

 

fingering representation

 

 

 

 

 

 

Placement on Stage

The two performers must stand, and be placed on stage as far as possible from each other (8-15 meters).

This placement on stage is an essential part of the project, and must be obligatory observed. In case the stage (the location) doesn't offer this possibility, the following pictures show possible alternatives.

 

Bregenz 2012 - Petra Stump - H.P. LinshalmBregenz 2012 - Petra Stump - H.P. Linshalm

 

 

Zürich 2013 - Petra Stump - H.P. Linshalm
Zürich 2013 - Petra Stump - H.P. Linshalm

 

 

Los Angeles 2014 - Samuel Dunscombe - Curt Miller
Los Angeles 2014 - Samuel Dunscombe - Curt Miller

 

 

Boston 2015 - Samuel Dunscombe - Curt Miller
Boston 2015 - Samuel Dunscombe - Curt Miller

 

 

London 2017 - Samuel Dunscombe - Avida Endean
London 2017 - Samuel Dunscombe - Avida Endean